Cordula Schieri, Marios Pavlou, Sophia Köhler, Tanja Hamester, Silvia Gardini, Carolina Cappelli, Nora Byrne
Dirty Care¹ ist ein transdisziplinäres Format mit internationalen FLINTA* Künstler*innen, das sich mit dem Spektrum Schutz auseinandersetzt. Der von Elsa Dorlin geprägte Begriff “Dirty Care” beschreibt eine Form der Fürsorge, die aus den eigenen Erfahrungen der Unterdrückung und dem damit verbundenen Bedürfnis nach Selbstverteidigung entsteht. Diese Form von Care-Arbeit muss häufig von FLINTA* geleistet werden, um sich in unserer Gesellschaft sicher fühlen zu können. “Dirty Care” bedeutet also, aus Angst, bedroht oder verletzt zu werden, nett und fürsorglich zu sein. Gemeinsam mit lokalen Akteur*innen entwickeln die Künstler*innen Skulpturen, Installationen und Performances, die sich mit dem De- und Rekonstruieren, (Rück-)Aneignen und Umdenken von Schutzkonzepten auseinandersetzen.
Die Ausstellung vereint Strategien der Selbstermächtigung und -verteidigung und untersucht die Politik der Solidarität, die Ökonomie der politischen Emotion, die Treibkraft von Zorn und Wut sowie die Phänomenologie der Beute und Wehrlosigkeit.
Die Installation Dirty Care ist Display und Bühnenbild zugleich. Objekte werden zu Requisiten für Performer*innen und können von Besuchenden aktiviert werden. Diese transdisziplinäre Zusammenführung künstlerischer Praktiken wird von performativen Interventionen, Workshops und Lecture-Walks gerahmt.
Cordula Schieri und Tanja Hamester bringen ihre individuellen Herangehensweisen an Material und Recherche in der Brunneninstallation AMIABLE ACCUMULATION zusammen, die an öffentliche Waschhäuser und Spas erinnert. In diesem Dirty Care Spa präsentiert Cordula Schieri Bronzeskulpturen umgeben von sprudelnden Wasserfontänen und sanftem Seifenduft. Tanja Hamester entwickelt ihre GESTURE OBJECTS in Form von benutzbaren Seifenskulpturen aus Abdrücken von „Story Carriers“, Objekten, die Geschichten von FLINTA*-Personen erzählen. Performende und Besucher*innen sind eingeladen, sich mit den Seifen die Hände zu waschen und die Abdruckstruktur umzuformen.
Marios Pavlous Drucke auf Badeponchos erkunden Tarot-Archetypen. LIQUIDS~WHISPERS~TIDES regt zum Nachdenken über Pflege-Rituale für Gewässer und Lebensräume an und verbindet Alltägliches mit Mystischem sowie Persönliches mit Kollektivem.
NEOPHYT von Nora Byrne setzt sich mit dem Kennenlernen des Anderen als Form der Selbstverteidigung auseinander, indem invasive Pflanzen gesammelt werden. Byrne verwendet natürliche Farbstoffe aus diesen Pflanzen zum Färben von Handtüchern in der Installation. Ein Lecture-Walk lädt ein, invasive Pflanzen entlang der Isar und in der Umgebung der Lothringer 13 Halle kennenzulernen.
WISH MOPBP ist eine Performance von Carolina Cappelli und Michele Petrosino, basierend auf einem Workshop mit einer lokalen FLINTA*-Gruppe über 50. Das Projekt untersucht unsichtbare Arbeit, weibliche Rollenmuster in Bezug auf Schutzkonzepte und die Rückaneignung von Angst. Die Performenden aktivieren die ausgestellten Arbeiten.
Silvia Gardini projiziert mit der Performance REACTIVE COMPLIANCE Corporate-Compliance-Systeme auf Übergriffe und Abhängigkeiten in der Kunstwelt. Sie bietet vertrauliche Beratungen an und macht somit das Melden von übergriffigem Verhalten zu einem sichtbaren Akt des Widerstands.
Die Lecture-Performance CONTAINER LECTURE von Sophia Köhler untersucht das Phänomen der Aufbewahrung und des Speicherns. Vom Körper bis zu Kabinetten, Taschen und Milchkannen – die räumlichen Ausdehnungen von Anhäufungen und Sammlungen werden hinterfragt.
BIRDS ON DISPLAY ist ein Workshop von Cordula Schieri. Inspiriert von den schwarzen Vogelstickern, die Vögel vor der Kollision mit Glasscheiben schützen sollen, gestalten Teilnehmende leuchtende, farbige Zeichnungen mit Window Color auf Glasscheiben.
Kuratiert von Tanja Hamester.
¹ Care-Arbeit wird meist von FLINTA* und marginalisierten Gruppen übernommen. „Dirty Care“ ist eine Form der negativen Care-Arbeit, eine Strategie der Selbstverteidigung vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen. „Dirty Care“ bedeutet nach Elsa Dorlin "ständig auf der Hut zu sein“, sich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft und Erschöpfung wiederzufinden. Dirty Care-Leistende werden zu Expert*innen in Bezug auf die herrschende Person, dem "object roi“ (Königsobjekt). Durch eine besonders gute Kenntnis der Bedrohung, können Dirty Care-Leistende gewaltvermeidende Strategien entwickeln: Fürsorge, Aufmerksamkeit und aufopferndes sich Kümmern. Hierdurch erhält die herrschende Person eine übermäßige, imperiale Macht. Die unterdrückte Person kennt die unterdrückende Person besser, als es umgekehrt je denkbar wäre. Diese Form der „fatigue“, der kraftraubenden Aufmerksamkeitsarbeit, kann Dirty Care-Leistende bis an den Rand der vollkommenen Selbstvergessenheit führen, wohingegen das „object roi“ sich gänzlich auf sich selbst konzentrieren kann. Unterdrückte erstellen ein „Archiv der phänomenalen und ideologischen Allmacht“ der Unterdrückenden. Indem sich die Herrschenden als „ausschließliche Objekte der Aufmerksamkeit und Sorge begreifen, verleihen sie sich selbst Bedeutung, Gewicht und Raum und reproduzieren so die materielle Voraussetzungen, die den Fortbestand ihrer Herrschaft gewährleisten."
Cordula Schieri, thematisiert ausgehend von einem gleichgestellten Ansatz die Sichtbarkeit von FLINTA* bezüglich Bezahlung, als auch Gleichberechtigung in künstlerischen Arbeitsprozessen, Fragen zur Produktion und der Ungleichheit in Herstellungsprozessen. Cordula Schieri studierte in Halle Kunstgeschichte, machte an der AdBK München ihr Diplom als Bildhauerin und vergangenes Jahr ihren Master Fine Arts an der ZHdK Zürich.
Marios Pavlou ist ein*e multidisziplinäre*r Künstler*in aus Zypern. Marios absolvierte 2015 die Athens School of Fine Arts und schloss 2020 ein postgraduales Studium an der Kunsthochschule für Medien Köln ab. Marios´ Praxis umfasst immersive visuelle Ergebnisse, indem Realität und Fiktion in Performance, bewegtem Bild und Schreiben verknüpft wird, um Themen der Identifikation und des Geschlechts zu erforschen.
Sophia Köhler hat bei Stephan Dillemuth an der AdbK München studiert, ist Teil des Kollektivs LeBlocccate und seit 2022 künstlerische Leiterin des Projekts Der Fahrende Raum. Ihre Arbeiten bestehen hauptsächlich aus Zeichnungen - neben Performances und Zines. In ihren Lectures kuratiert sie Informationen aus unterschiedlichen Recherchen, z.B. über die weibliche Geschichte des Internets, Obsessionen und das Fan-Sein, das Nichtstun, Verweigern und Faulenzen.
Tanja Hamester ist eine recherchebasierte Künstlerin, deren Arbeit auf Strategien der Kartographie, Archivierung und kritischen sozialen Praxis zurückgreift. Das Aufdecken, De- und Rekonstruieren von Machtstrukturen sowie das Konzept des (Ver-)Lernens sind wichtig für ihre Arbeit. In ihren performativen Installationen verbindet Hamster die Theorie des Abdrucks und die Performativität der Spur. Sie schloss ihr Kunststudium an der AdBK München ab und erwarb einen M.A. in Germanistik an der LMU München. Sie kuratiert die Ausstellung Dirty Care aus ihrer künstlerischen Position heraus.
Silvia Gardini, Studierende an der AdBK München und Senior Business Lawyer in einer internationalen Kanzlei, ist eine feministische bildende Künstlerin. Ihre Forschung konzentriert sich auf Machtmissbrauch und geschlechtsspezifische Gewalt im Kunstkontext, ihre Gemälde auf Privilegien und Migration. Silvia Gardini hat Vorträge und Beratungen an Kunstakademien in DE, IT und NL über die #metoo-Bewegung in den Künsten gehalten. Sie ist Vorstandsmitglied des Kunstkollektivs ENGAGEMENT ARTS NL.
Carolina Cappelli ist eine italienische Performerin, Filmemacherin und Trainerin für Kunstturnen. Ihre Forschung umfasst die Hybridisierung zwischen Workshopformaten, Schreiben sowie performativen und filmischen Praktiken. Sie arbeitet häufig zwischen Fiktion und Realität und setzt sich mit dem Konzept der Präsentation und Repräsentation auseinander, wobei sie sich stark auf das Reenactment als primäres Forschungsinstrument bezieht. Ihre Arbeiten sind kontextbezogen und beschäftigen sich mit dem Bruch von Erwartungen, dem Scheitern und der Notwendigkeit, die Kategorie der Zuschauenden zu entgrenzen. Derzeit untersucht sie die Konstruktion der Rolle der Frau sowohl als Figur als auch als Zuschauerin in Horrorfilmen. Bei der Ausstellung Dirty Care arbeitet sie zusammen mit Michele Petrosino, Performancekünstler*in aus Bologna. In den letzten Jahren hat Michele als performende Person mit Kollektiven und Künstler*innen wie Bruce Nauman, Nico Vascellari, Societas, Kinkaleri zusammengearbeitet. Seit 2022 arbeitet Michele an interdisziplinären Projekten, die den künstlerischen Prozess mit einem Schwerpunkt auf partizipatorischen Praktiken und Workshops erforschen. 2023 präsentiert Michele STILL bei Fumi della Fornace zusammen mit Gaetano Palermo. Anschließend wurde das Projekt mit dem CosmoGiani-Preis ausgezeichnet.
Nora Byrne ist eine multidisziplinäre Künstlerin, die sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der Türkei arbeitet. Sie hat einen Masterabschluss in Museums- und Galeriepraxis an der UCL Qatar und in Bildender Kunst von der Sabancı Universität. Byrne verwendet Installation, Recherche, Zeichnung, Malerei und Collage, um Werke zu schaffen, die die Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Pflanzen erforschen, insbesondere im Kontext urbaner Ökologien.